Die Projekte im Thementeil dieses Hefts übersteigen das Wohnen, wie es herkömmlich diskutiert wird. Denn sie weisen über Rentabilität, Typologien oder die Gebrauchsfunktionalität hinaus. Und dies geschieht wesentlich mit den Mitteln der Architektur, um nicht zu sagen: über den architektonischen Raum. Nicht ganz nebenbei liefert dieses Heft also drei verschiedene Antworten auf die Frage, was denn architektonischer Raum sein kann.
Zum Anfang der Konzeption von dieser Ausgabe liessen wir uns von einem Gefühl leiten: nämlich, dass die Beispiele alle in irgendeiner Form einem theatralischen Raumverständnis folgen – um damit direkt an das Heft «Tiefe» (wbw 3 – 2022) anzuschliessen. So verkörpert die Siedlung Vogelsang in Winterthur fast wörtlich ein bühnenhaft-barockes Architekturkonzept, indem die Entwerfenden das Wohnen als Komödie und die Architektur als Kulisse verstehen. In Ergänzung zu dieser Referenz an das Theater funktionieren die Bühnen von Edelaar Mosayebi Inderbitzin oder Sophie Delhay in einem modernistischen Sinn als «Maschinen», die das Wohnen performen. Im Wohnhaus von EMI in Zürich ist die Metapher direkt; bei Delhays zellulären Grundrissen ihrer französischen Wohnanlagen funktioniert sie eher abstrakt und indem die Architektin einen regelbasiertstarren Bausatz von Räumen oder eben Bühnen vorgibt. Auf diesen Bühnen pulsiert das Leben. Kein Wunder, war für uns die grosse Entdeckung in diesem Heft eine gemeinsame literarische Referenz: Georges Perec. EMI und Delhay beziehen sich explizit auf dessen Spielanleitungen.
Und das Wohnen selbst? Die hier versammelten Beispiele demonstrieren durch ihre Spezifität exemplarisch, dass die Zeit der grossen Wohn-Erzählungen vorüber ist. An ihrer Stelle stehen heute postmoderne Narrative. Damit Architektur gelten kann, muss sie Singularitäten schaffen, einzigartig, unverwechselbar sein – selbst für Genossenschaften. So hat das Ende des modernen Massenwohnungsbaus auch sein Gutes, denn Masse produziert zu viel CO₂. Gerade jetzt, wo sich die Bauindustrie unter den Bannern von Kreislaufwirtschaft und Recycling neu aufstellt, sollte der Wohnungsbau zuerst bei Lösungen für ein ressourcenschonendes gutes Leben ansetzen und nicht bei Rezepten für mehr Wachstum. — Tibor Joanelly, Roland Züger