Edoardo Gellner, der Architekt der Dolomiten
Edoardo Gellner muss ein sorgfältiger und gewissenhafter Mensch gewesen sein. So stelle ich mir diesen Menschen vor, der ab 1947 von Cortina d’Ampezzo aus sein Werk als Architekt und Planer entwickelte. Detaillierte Zeittabellen und eine umfangreiche Struktur auf der Webseite der Associazione Culturale Edoardo Gellner, welche 478 Einträge (gebaute und nicht gebaute Projekte) aufführt, belegen diese Vermutung.
Ich habe Gellner nicht gekannt. Er starb 2004 im Alter von 95 Jahren. 2019 brachte Raphael Hähni, ein ehemaliger Mitarbeiter von mir, Fotos von einer Italienreise ins Büro, die mich neugierig machten. Seither verfolgte ich im stillen die Idee, eine kleine Reise für Daniele Di Giacinto und Lukas Bögli und ihre Partnerinnen vorzubereiten, als Dank für ihr Engagement im BSA. Jetzt waren wir dort, in Corte di Cadore, wo Edoardo Gellner von 1954 bis 1963 ein Feriendorf für den italienischen Erdölkonzert ENI / AGIP baute. Mehr zum Villagio ENI später.
Edoardo Gellner hat eine breite Nachwirkung nach seinem Tod ausgelöst. 2003 führten Arno Ritter und Paolo Biadene vom „aut. Architektur und Tirol“ noch ein Gespräch mit Gellner, das als Film dokumentiert ist. Es folgten Ausstellungen, zahlreiche universitäre Arbeiten, Publikationen und Symposien. In den wundervollen Büchern der Brüder Feiersinger, ITALOMODERN 1 & 2 (Park Books) wird das Wirken von Edoardo Gellner ebenfalls vorgestellt.
Auf der Suche nach Unterlagen zu Edoardo Gellner bin ich auf seine langjährigen Forschungen gestossen zur „Architettura rurale nelle Dolomiti Venete“ (auf deutsch bei Callway „Alte Bauernhäuser in den Dolomiten“, 1989), welche er ab 1957 in seiner Wahlheimat betrieb. Und einmal mehr bestätigte sich beim Lesen dieser umfassenden Arbeit meine Vermutung, dass Gellner systemisches Denken wichtig war.
Überrascht und hoch erfreut hat mich seine Herangehensweise, die er wie folgt beschreibt:
„Eine systematisch angelegte Untersuchung, die darauf abzielt, den Aussagewert einer bäuerlichen Architektur zu interpretieren, muss hinsichtlich ihrer Grössenordnung in zwei entgegengesetzte Richtungen betrieben werden.
Zum einen hin zum extrem Kleinen, wie z.B. einem Konstruktionsdetail eines Bauernhauses, und zum anderen hin zum grossen Raum, wie ihn die „Form“ des bebauten Landes darstellt.
Eine so geartete Untersuchung darf ein Bauernhaus nicht als ein in sich abgeschlossenes, aus dem Kontext gelöstes Faktum ansehen, sondern muss die Charakteristiken des Häuserverbandes mit in Betracht ziehen, da sich daraus die Siedlungsform (in ihrer klassischen Bedeutung als „forma urbis“, Aufriss und Plan einer Siedlung) ergibt. Darüber hinaus müssen die Wechselbeziehungen zwischen einer Siedlung und ihrer aus Feldern, Wiesen, Wäldern, Felsen und Bergen bestehenden Umgebung analysiert werden, d.h. das Verhältnis von der Siedlungsform zur Form der Kulturlandschaft.
Dieses methodologische Forschungsvorhaben zur Siedlungsform und zur bäuerlichen Architektur muss aber auch die realen Dimensionen der physischen Fakten, aus denen Architektur und Urbanistik bestehen, ständig im Auge behalten. Es muss die jeweilige Situierung dieser Objekte im Raum miteinbeziehen, um so die Essenz eines bebauten Territoriums zu erfassen, welche nicht nur in seiner spezifischen Form, sondern eben auch in seiner Grössenordnung begründet liegt.
... Mittels einer Reihe von grafischen Darstellungen, die den Grundstock dieses Kapitels (Ursprung und Entwicklung der Siedlungsformen) bilden, soll in diesem Sinne versucht werden, die reale Bedeutung des bebauten im Verhältnis zum nicht bebauten Raum, die Beziehung zwischen der formalen Gestaltung eines Gebäudes und seiner natürlichen Umwelt herauszuarbeiten.
Entstehung und Entwicklung des bäuerlichen „Habitats“.
Ein kompliziertes Geflecht unterschiedlichster Motive und Bedingtheiten hat auch in unseren Tälern zur Entstehung bestimmter Formen und Dimensionen, zur Festlegung von Funktionen und vor allem zur Wahl des Standorts eines bäuerlichen Habitats geführt.
Unter Vernachlässigung des umstrittenen Themas der ursächlichen Gründe, die den Menschen dazu getrieben haben, sich in den Bergen dauerhaft niederzulassen (wobei sowohl die Hypothese der Weidegründe als auch die der Metallsuche bzw. von dessen Abbau zur Diskussion stehen), sollen einige der Motive aufgeführt werden, die in vorgeschichtlicher Zeit oder auch später zwar nicht zur Entstehung, aber doch zur Weiterentwicklung der Besiedlung geführt haben.
Dabei kommen die verschiedensten Aspekte in Frage, wie der natürlichen Umwelt immanente Zwänge, Gesellschaftsordnung, historisch-politische Gegebenheiten, Akkulturations- und Übernahmephänomene, ethische Einflüsse und Religiosität, Mythos, und Aberglaube, von Bevölkerungsgruppen selbständig getroffene bzw. von aussen aufoktroyierte Entscheidungen, Verteidigungsprobleme und durch Krieg bzw. Naturkatastrophen hervorgerufene Zerstörung, Bevölkerungszuwachs und Auswanderung, Handels-, Transport- und Marktsysteme. All diese Aspekte sind in unserem Untersuchungsgebiet von Bedeutung, wenn auch jeweils in sehr verschiedenem Ausmass, so dass dieses heterogene Bild entstanden ist, welches die Struktur und die Form der festen Siedlungsstätten in unseren Tälern vorwiegend prägt, auch wenn sie alle auf eine einzige Grundstruktur, nämlich die Haufensiedlung, zurückzuführen sind. Die Gegenden mit verstreut liegenden Höfen sind die Ausnahme und deshalb nicht auschlaggebend.“
Begeistert hat mich die hier geschilderte Herangehensweise von Edoardo Gellner weil schon in dieser kurzen Einleitung klar spürbar ist, dass hier ein Architekt ans Werk geht, der mit einem umfassenden Verständnis der Zusammenhänge von Raum, Landschaft und den komplexen Bedingtheiten des Lebens der Menschen vertraut ist. Alle Fragen voreiliger Typisierungen oder einschränkender Sichtweise weist er zurück. Die Architektur wird nicht zum Objekt (Schutzobjekt) degradiert und zerlegt. Edoardo Gellner hat einen wachen Geist. Er zeigt auf, was er vorfindet. Und er hat einen Sinn für den gebauten und nicht gebauten Raum, für Topographie und für das Territoium. In unzähligen Zeichnungen und Fotografien macht er die Vielfalt der Architektur und Landschaft der Dolomiten sichtbar und zeigt, dass es ihm ein Herzensanliegen ist.
Diese Jahrzehnte dauernde Recherche, die Verbundenheit mit den Menschen und der Landschaft der Dolomiten ist untrüglich spürbar und findet auch einen Widerhall in der Architektur Edoardo Gellners, der immer aus der Haltung arbeitete, an unstimmigen Orten eine kulturelle, räumliche, architektonische und soziale Verbesserung mit seinen Bauten anzustreben: Architektur als Kultur- und Gesellschaftswerk.
Biografische Notizen Edoardo Gellner:
1909 geboren in Abbazia (Heutiges Kroatien)
1924-33 Lehre in der väterlichen Werkstatt für Raumausstattung und Besuch der
Kunstgewerbeschule in Wien (bei Otto Prutscher)
1941-46 Studium an der Hochschule für Architektur in Venedig (Diplom bei Giuseppe Samonà)
seit 1947 lebt und arbeitet in Cortina d’Ampezzo
2004 verstorben in Belluno
Weitere Hinweise:
Donazione Gellner. Fondazione Giovanni Angelini hier
Associazione Culturale Edoardo Gellner hier
Artikel. Edoardo Gellner_Architekturkammer Bozen hier
Artikel. Wie baue ich mein Haus? hier
Edoardo Gellner. Bibliografia hier
ITALO MODERN 1 & 2 (Park Books) hier
Film von Arno Ritter und Paolo Biadene vom aut. Architektur und Tirol
vorgestellt von Patrick Thurston