close
BSA Bern, Understand architecture,

Tragen und getragen werden

Tragen und getragen werden

Das Tragen verkörpern

Das Verbandshaus des Fleckviehzuchtverbandes in Zollikofen, erbaut von Edwin Rausser 1968 – 70, verkörpert in exemplarischer Weise das Tragen. Um etwas tragen zu können, muss man aufrecht stehen. Diese fundamentale Einsicht scheint banal. Gleiches gilt aber auch in der Architektur. Um einen architektonischen Raum zu bilden, muss man mindestens eine Geschossdecke von Grund abheben. Am einfachsten stellt man eine Decke auf vier Stützen. So entsteht ein Volumen. Ohne die tragende Kraft der Stützen kann der Raum nicht gebildet werden. Auch diese Feststellung scheint banal, genauso wie die Tatsache, dass Raum immer nur als begrenzte Leere wahrgenommen werden kann. Aber so selbstverständlich ist das nicht! Besonders dann nicht, wenn ein Bauwerk ausschliesslich auf diesem Grundgedanken aufbaut. Hier werden drei Decken über einem Keller angehoben. Insgesamt 39 Stützen tragen die Ebenen. Davon liegen deren 15 im Innern. Sie haben eine regelmässige, achteckige Form. Ihre Mächtigkeit nimmt von oben nach unten stetig zu, ein Abbild der grösser werdenden Lasten. An der Fassade liegen 24 Stützen. Hier ist ihre achteckige Form quer zum Bauwerk in die Länge verzogen, jedoch bei gleichbleibendem Querschnitt über alle Geschosse. Vielleicht müsste man hier eher von Pfeilern reden. Alle Stützen haben die Aufgabe, die Geschossdecken dieses Bauwerks zu tragen. Nur tun sie dies im Innern und an der Fassade auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Im Innern kommt die „afrikanische Art“ des Tragens zur Anwendung; majestätisch ragen die kraftvollen Stützen im Innenraum auf und tragen alle Last auf dem Kopf. Ganz anders an der Fassade; hier greifen Backen seitlich an den Pfeilern wie Arme nach innen und bilden ein punktuelles Auflager für die Decken. Die Pfeiler werden auf Biegung beansprucht. Genau hier kommt ein Gegengewicht zu Hilfe. Sozusagen auf den Schultern der Backen liegen die Putz- und Fluchtwegstege auf, die ihren Schwerpunkt ausserhalb der Deckenauflager haben. So wird das Tragen der Pfeiler an der Fassade zu einem Hin und Her der Lasten. Plastisch besonders virtuos ausformuliert findet dieses Thema in der Gestaltung des Dachabschlusses seine Vollendung.

Bauherrschaft: Schweizerischer Fleckviehzuchtverband, heute swissherdbook
Architekt: Edwin Rausser, Bern
Mitarbeit: Pierre Clémençon, Markus Gierisch
Bauingenieur: Walder und Dr. von Gunten, Bern
Mitarbeit: Heinz Studer
Klimaingenieur: H. Walter, Bern

Die ausserordentliche Tragkonstruktion wurde im Rahmen des Projektes „Formkraft der Konstruktion“ von Patrick Thurston, Martin Tschanz, Matthias Schelling, Carole Gächter und Jürg Conzett ausführlich dargestellt und im BSA Cahier 4 dokumentiert.

Das Projekt „Formkraft der Konstruktion“ wurde vom Vorstandsteam des BSA im Rahmen der Stipendien für bildende Kunst, Fotografie und Architektur des Kantons Bern 2014 / 15 und der Unterstützung weiterer Kreise durchgeführt.

Patrick Thurston