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BSA Bern, Architecture elsewhere, , Patrick Thurston

Landschaft, Landschaft ...

Landschaft, Landschaft ...

Ein Haus, das der Landschaft huldigt.

Heute ist alles anders!* Es ist Herbst geworden und die ORA fegt bissig kalt aus der grossen Ebene über den See den Bergen entgegen. Gerne ist man im Haus und geniesst die wärmenden Sonnenstrahlen. Aber nicht nur das, auf einmal haben die Fenster eine ganz andere Bedeutung.

Bevor ich hierher kam, in das Haus, in dem die Fenster die Landschaft ins Innere des Hauses einladen - darüber mehr später - stand ich in Lavin im Hotel Piz Linard am Fenster und musste immer wieder auf’s Neue den Blick auf das Dorfgefüge richten; wie sich Licht und Schatten im Strassenraum verändern und damit die Farben, die Stimmungen, die räumliche Plastizität. Da wird mir ein Stück Dorf geschenkt, ein Teil eines äusserst spannenden Raumgebildes, wenn ich dort am Fenster stehe und dabei die Menschen beobachte, die von der Bäckerei Giacometti zur Piazza Gronda gehen und einen Schwatz haben. Dieser Ort ist zutiefst demokratisch! Da kann sogar der 10 jährige Nachbarsbub seine Aufgabe als Kuhtreiber vollbringen und dabei einüben, wie man dem motorisierten Treiben in einem solchen Dorf mit einem Haselnussstecken Einhalt gebietet, wenn es um Vaters und Mutters Kühe geht! So soll das Dorf sein und solch bereichernde und lehrreiche Ausblicke können Fenster geben, wenn sie dicht am Dorf-Körper stehen (wir kennen nur das Wort Stadtkörper, aber im Dorf gibt es dieselben Räume und Orte) und uns so stets an den Sinn der Gemeinschaft erinnern, an Teilhabe – auch Gwunder – und Verantwortung für das Zusammenleben.

Wo sind die Menschen, die mit ihrem Haus wieder an diesem gemeinschaftlichen Leben des Dorf-Körpers teilhaben wollen. Menschen, die an die Strasse ziehen, die sich nicht auf ihre von Thuja und Kirschlorbeer umfriedeten Rasenflächen zurückziehen, in die Isolation um lediglich die Amseln zu beobachten, die dort auf dem Rasen nach Würmern suchen? Ich frage nach den Menschen, die auch im Alltag aus ihren Fenstern schauen, den Wandel von Licht und Schatten in den Strassen beobachten und sich dafür einsetzen, das dieser Raum als Ort des Zuhörens zurückgewonnen wird.

In diesem Dorf ist keine Natur. Lavin ist ein Ort mit städtischen Qualitäten. Die Fenster sind wie Augen, mit denen ich am Dorfleben teilhaben kann. Über die Dächer hinweg erheische ich einen Ausblick in die Landschaft, zum Horizont der Berge in der Ferne.

Aber jetzt zu diesem Haus am See in Italien von dem ich eigentlich schreiben will, da ist alles anders. Dieses Haus dient nicht dem Lagern.* Hier führt die Landschaft Regie. Die Fenster sind genau so gemacht, dass die Landschaft ihren grossen Auftritt haben kann. Und diese Landschaft lehrt uns, dass Weite bis zu den Rändern führt, an denen sich alles auflöst, im Unendlichen wo Sehnsucht aber auch das Eigene aufscheinen. Die Landschaft ist von einer solch überwältigenden Grossartigkeit, dass man eigentlich gar keine Fenster machen kann. Man möchte dieser Wohltat, dieser ständig sich wandelnden Landschaftsmedizin dauernd ausgesetzt sein, wie wenn man in das Rauschen eintauchen könnte, in ein Heilbad von Landschaft.

Durch diese Fenster schwallt Landschaft ins Haus. Das beginnt früh am Morgen, wenn die Felswände gegenüber noch fahl im Schatten liegen, bis dann allmählich die Sonne abtaucht, den Fels lachsfarben rötet, mit gleissendem Licht alle Schatten tilgt, einen Widerschein im See erzeugt und die vorher so stahlblaue, schwere Farbe des Wassers grünlich färbt um zugleich mit den ersten Sonnenstahlen ein Spiegelbild auf die Fenster zu zaubern, welches diese zur Projektionsebene der Landschaft macht. Ein stattlicher Trupp Kolbenenten schaukelt derweil im schattigen Uferbereich des Sees. So geht das unentwegt weiter, Schaumkrönchen auf den Wellen sind nur im Sonnenlicht erkennbar bis dann endlich nach einer guten Stunde die Sonne mit voller Kraft und in flachem Winkel die Olivenbäume vor dem Haus in plastisch-grün-silberne Gestalten verwandet, die vom VENTO durchkämmt werden. Allmählich nimmt die Kraft der Sonne zu, die Spiegelungen auf den Fenstern verschwinden und ein markantes Licht-Schatten-Spiel wirft die Teilung der Fenster als scherenschnittartiges Muster auf den Boden im Haus. Im Verlauf des Tages wandelt sich die Wahrnehmung der Landschaft immer fort bis sie dann endlich im Dunkel der Nacht erstirbt und die Fenster zu schwarzen Flächen werden, in denen sich das Innere des Hauses auf vielfältige Weise spiegelt. Plötzlich gibt es die Weite der Landschaft nicht mehr, bis auf eine in der Ferne leuchtende Strassenlampe. Aber auch in der Dunkelheit ist nicht nichts. Das Spiegelbild, das die Fenster in den tiefen schwarzen Raum ausserhalb des Haues werfen, begrenzt das unendlich tiefe Nichts und lässt es als Teil des belebten Innenraumes erscheinen. Einmal mehr erscheinen die Fenster Erweiterungen des Raumes zu sein, diesmal als Ausstülpungen des Inneren.

Irgendwie kann es nicht anders sein, als dass hier ein Architekt am Werk war, der Fenster grundsätzlich neu erfinden wollte. Das Fenster als Loch in der Wand, als Auge, das mir den Blick in die Landschaft gönnt, scheint ihm nicht zu genügen. In diesem Haus gibt es Fenster, die wie Wände sind und Wände die an Stellen abrupt durch Gläser ersetzt werden, so dass man sich fragt, wie das alles zusammenhält. Die Öffnungen springen dort nach oben, wo der Betonunterzug der Terrasse von innen und aussen läuft und sie sind dort abgetreppt, wo die Topografie zum See hin abfällt. Betrachtet man die Machart der Fenster genauer, so stellt man fest, dass man hier vielmehr von stehenden Gläsern sprechen müsste. Die Gläser werden auf- oder eingespannt, sie stecken einfach im Marmorsims oder in der Betondecke, schliessen die treppenförmigen Öffnungen. Die Grössen der Gläser variieren undogmatisch. 115 mal 310 Zentimeter schient die fabrikationstechnische Limite gewesen zu sein. Dennoch wird eine präzise Sprache erkennbar, welche die Wände als eine abstrakte Komposition von transparenten und nicht transparenten Teilen behandelt. Eigentlich haben wir es hier mit einem Haus ohne Fenster zu tun! Alles in diesem Haus dient der Grossartigkeit der Landschaft und gründet auf dem Wissen, das Transparenz immer auch einen Gegenspieler sucht, der diese erlebbar macht.

Der Autor dieses Werkes, Libero Cecchini (1919 – 2020) hat verstanden, wie eine Behausung sein kann, die der Landschaft huldigt.

ORA = der Wind, der am Nachmittag von der Ebene zu den Bergen strömt
VENTO = der Wind der Morgenstunden, der von den Bergen in die grosse Ebene fegt

* siehe dazu den Text hier

Vorgestellt von Patrick Thurston