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BSA Bern, Comprendre l'architecture, , Jana & Laurent Vuilleumier

Die Suche nach der Form II

Die Suche nach der Form II
Katrin Zutter - Künstlerin, Jens

Von der Form zum Raum

Im ersten Teil haben wir die Interessenverschiebung von ‚la forme forte‘ zur inneren oder offenen Form an einigen Beispielen Schweizer Architektur der letzten Jahre beobachtet.

Wir wollen diese Tendenz zum Anlass nehmen, um uns Hugo Häring und dessen geistigen Schüler Hans Scharoun zuzuwenden, deren Formensprache gewisse Ähnlichkeiten mit den im ersten Teil zitierten Beispielen von EMI Architekten und von Ballmoos Krucker Architekten aufweist.

Hugo Häring (1882-1958) verfasste 1925 einen seiner wichtigsten Texte, der die Grundlage seiner Theorie des organhaften Bauens enthält (Wege zur Form, in Die Form, Jhrg1. Heft1, Okt.1925).

In diesem Aufsatz unterscheidet er zwischen Leistungsform und Ausdrucksform: die erste entsteht in einem Prozess der Gestaltfindung, die zweite existiert à priori im Kopf des Entwerfenden (die Funktionen werden der Form angepasst). Häring distanziert sich klar von der Ausdrucksform, die er auch Zwangsform nennt.

Die Leistungsform wird vom Inneren zum Äusseren entwickelt. Zur ihr zählt Häring Geräte des täglichen Gebrauchs – Schiffsbauten, Festungen, Brücken und Kanalbauten und Wohnbauten. Häring findet Argumente für seine Leistungsform in der Natur: „Wir suchen unsere Ansprüche an Ausdruck in Richtung des Lebendigen, in Richtung des Werdens, in Richtung des Bewegten, in Richtung einer naturhaften Gestaltung geltend zu machen, denn der Gestaltungsweg zur Form der Zweckerfüllung ist auch der Gestaltungsweg der Natur. In der Natur ist die Gestalt das Ergebnis einer Ordnung vieler einzelner Dinge im Raum in Hinsicht einer Lebensentfaltung und Leistungserfüllung sowohl des Einzelnen wie des Ganzen. (in der Welt der geometrischen Kulturen ist die Gestalt der Dinge gegeben durch die Gesetzhaftigkeit der Geometrie.) Wollen wir also Formfindung nicht Zwangsform, Gestaltfindung nicht Gestaltgebung, so befinden wir uns damit im Einklange mit der Natur, indem wir nicht mehr gegen sie handeln sondern in ihr.“

Die Suche der Leistungsform bedeutet konkret eine Arbeit am Grundriss: Neben dem optimalen Funktionieren (Orientierung, Konstruktion und Materialität) eines Baus gilt besondere Aufmerksamkeit den Bewegungsabläufen: vorspringende Gebäudeteile laden zum Eintreten ein, Flurerweiterungen reagieren auf grössere Menschenströme, Verengungen werden gesetzt, wo der Strom sich verläuft. Runde oder unregelmässige Linienverläufe des Grundrisses helfen fliessende Raumkonstellationen zu schaffen. Die äussere Erscheinung, die plastische Durchformung des Baukörpers, ist Folge der inneren Entscheidungen.

Um 1931 erkennt Häring, dass die Leistungsform den „höheren Anforderungen“ nicht gerecht wird. Wenn es nur um das Umsetzen der funktionalen Anforderungen geht, fehlt die geistige Lebendigkeit und Erfülltheit. Häring schreibt im Artikel „Das Haus als organhaftes Gebilde“ (1932) dass der Architekt eine Gestalt schafft, die einer Idee verpflichtet ist. Er spricht ab jetzt von der wesenhaften Gestalt.

An diesem Gedanken – des inneren Wesens einer Aufgabe -  setzt Hans Scharoun (1893-1972) an, Schüler und Freund von Häring, der im Gegensatz zu seinem Mentor sehr wenig schrieb, dafür aber dessen Theorie baulich umsetzte und weiterentwickelte. Härings Theorie fehlte die Bedeutung der Gestalt als raumbegrenzendes Element. Der Raum und seine Beziehung zum Menschen war zentrales Thema der Architektur von Hans Scharoun. Das Immaterielle vermittelt den Bauten den Sinngehalt. Das materielle Erscheinende ist dabei nur Mittel zum Zweck. Die Raumbegrenzungen und auch der Baukörper dürfen keinen Eigenwert beanspruchen. Denn nicht das Erscheinungsbild ist von Bedeutung, sondern das Geschehen in den Bauten. Scharoun schrieb: „Wir waren uns einig in der Auslegung eines Wortes Hugo Härings, welcher das Bauwerk ‚ein Organ des Lebens‘ nennt, weil er die Welt und ihre Einzelheit vom ‚Geschehen‘ her begreift.“

Was ist mit Geschehen gemeint? Es führt vom statischen Objekt zum sich bewegenden Subjekt, das den Raum erfährt. Was ist das für ein Raum in dem etwas geschehen kann? Wenn man Scharouns Räume betrachtet, sind es keine klar definierten, sondern in einander übergehende Innenräume und Aussenräume. Seine Bauten sind durch verschiedene Raumhöhen und Raumfolgen, die sich einengen oder aufweiten, charakterisiert. Ein klar gefasster Raum wird vermieden. Die agglomerathaften Baukörper sind keine vorgedachten Formen, sie entstehen nach dem Prinzip der Hülle, welches Scharoun von Häring übernommen hat: „Die gestellte Aufgabe ist klar: es geht darum, das Haus von innen her anzulegen, von den lebendigen Vorgängen des Wohnens auszugehen und auch im Aufbau nach diesem Prinzip vorzugehen. Das Aussen ist nicht mehr von vornherein gegeben, es ergibt sich erst, wie sich das Aussen in allem Organwerk erst ergibt. Das Aussen setzt dem Organwerk wohl Grenzen entgegen, doch bestimmt es nicht seine Form. Man zieht Wände um Wohngruppen herum, man ordnet nicht Wohngruppen in Rechtecke ein (…)“.

Scharoun baut nicht raumbegrenzend sondern raumbildend. Innere und äussere Gestalt lassen sich nur durch ein Bewegen begreifen und erfahren. Ein einfacher geometrischer Raum kann direkt gänzlich begriffen werden, er ist in unserem Gedächtnis existent. Scharouns Räume erschliessen sich nur durch sukzessives Erleben. Dem Betrachter ist kein besonderer Standpunkt zugewiesen, wie etwa die Symmetrieachse eines rechteckigen Raumes. Deswegen ist der Mensch selbst immer im Zentrum des Raumes. Scharoun beschreibt dies: „Raum ist nur durch den Menschen, der ihn erlebt und erfüllt.“

In der Theorie von Scharoun und Häring ist nichts vorhanden, was als unmittelbare praxisbezogene Handlungsanweisung dienen könnte. Sie postuliert kein allein gültiges Formenvokabular. Wir denken aber, dass Härings und Scharouns Arbeit helfen kann, die Architekturdiskussion über Form zurückzubringen zu den Bedingungen, die zur Form führen: Raum, Konstruktion und Funktion.

Lassen wir Häring das Schlusswort sprechen: „Nicht unsere Individualität haben wir zu gestalten, sondern die Individualität der Dinge. Ihr Ausdruck sei identisch mit ihnen selbst."

vorgestellt von Laurent Vuilleumier