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Italienische Reise - Arezzo

Italienische Reise - Arezzo

Arezzo

Italien ist einfach nicht zu fassen, schon gar nicht in kurzer Zeit. Franz Füeg hat mir seine Touring Club Führer aus den 80er Jahren hinterlassen, weil er eine Verwandtschaft spürte. Italien hat eine unglaubliche Anziehungskraft. Jetzt erzähle ich die Italienreise 2020 rückwärts, um mich schrittweise wieder genau in die Empfindungen zu versetzen, die an den Orten aufkamen.

Teil 1: AREZZO. Wir haben uns frische Feigen gewünscht, nach dem diese in den Bergen der Abruzzen kaum zu finden waren. Und siehe da, gleich unten in der Gasse lagen welche aus in der „Antica bottega di frutta e verdura“. Die „Proposte indecenti“ (siehe Titelbild) fallen mir erst jetzt auf, „unsittliche Vorschläge“ sind mir vor Ort keine aufgefallen! Oder waren wohl die riesigen toscanischen Koblauchzehen gemeint?

Doch nach Arezzo wollten wir wegen ganz etwas Anderem. Piero della Francesca (*1410/20, gestorben12. Oktober 1492)!

Vor zwei Jahren sahen wir die „Madonna del Parto“ in Monterchi, einem kleinen Dorf an der Grenze zu Umbrien unweit von Arezzo. Das Bild zeigt die schwangere Madonna mit je einem Engel zur Seite in einem zeltartigen Bau. Dem Ausdruck der jungen Frau kann man sich kaum entziehen. Ihr Blick ist nach innen gewandt und trotzdem strahlt sie eine unverrückbar starke Präsenz aus. Ihr bodenlanges Kleid, das in einem himmlischen Coelinblau dargestellt ist, öffnet sich von der Brust bis über dem Bauch und zeigt weissen Stoff, der den gerundeten Körper der Frau bedeckt (Foto hier / Detailfoto hier). Die Körperlichkeit des Bildes hat eine berührende Unmittelbarkeit, welche die Entrücktheit der Madonna total auflöst und die unbändige Kraft der Sinne und Empfindungen andeutet.

In der Kirche San Francesco im Zentrum der toscanischen Kleinstadt Arezzo befindet sich im der Hauptchorkapelle ein Freskenzyklus über „Die Legende vom Wahren Kreuz“. Das Werk wurde zwischen 1453 und 1459, möglicherweise bis 1466 geschaffen.

Ich bin nicht in der Lage, den gewaltigen Bildzyklus inhaltlich zu beschreiben (link Wikipedia hier). Was aber auffiel und mir schon ziemlich verrückt erschien, ist die perspektivisch kompositorische Kraft dieser grossen Bilder. Anders als bei früheren Fresken, zum Beispiel derjenigen von Lorenzo und Jacopo Salimbeni im Oratorio di San Giovanni Battista in Urbino von 1416 (Foto hier) wo Ansätze zu perspektivischen Darstellungen vorhanden sind, hat der Freskenzyklus von Piero della Francesca in Arezzo aber eine Klarheit und radikale Art der bildnerischen Komposition, welche das Thema der Perspektive wieder auflöst oder integriert in den Kanon der Komposition mit bildnerischen Mitteln, welche bis an die Grenzen der Abstraktion führen.

Die szenische Bildhaftigkeit, das von der Darstellung losgelöste Setzen und Ordnen des Bildes erreicht die Kraft einer räumlichen Skulptur, ob es das Ganze oder auch nur die Falten eines Kleides oder die Präsenz der Architektur betrifft.

Piero della Francesca schafft nach meiner Empfindung mit bildnerischen Mitteln. Durch die Kraft seiner Kunst wird das Ganze zu einem szenischen Raum der von Figuren, Formen, Farben und Räumen geprägt ist die eine Unmittelbarkeit und Dringlichkeit erreichen, wie ich sie sonst nirgends gesehen habe. Seine Malerei kommt mir vor wie Bildhauerei mit Farben und Formen! Die Darstellung der Geschichte scheint nebensächlich, tritt aber durch den Einsatz der bildnerischen Mittel umso kräftiger, um nicht zu sagen gewaltiger an uns heran.

Ich frage mich, wie Architektur durch den Einsatz ihrer Mittel, eine solche Unmittelbarkeit und Dringlichkeit bekommen kann? Ich würde mich freuen über einen Austausch zu diesen Fragen.

Verfasst von: Patrick Thurston