Hier geht es um die Baukunst einer Zeit, die gerade erst vergangen ist. Gemeint ist die Zeit wo wir klein waren. Unsere Eltern aber standen mitten im Leben. Sie haben die Zeit nach dem Krieg als Erwachsene mitbestimmt, den Aufbruch zur «zweiten Moderne» in der Schweizer Architektur aus nächster Nähe miterlebt.
Wir alle kennen diese Architektur! In ihren Räumen besuchten wir die Schulen, mit grosser Wahrscheinlichkeit datiert der Sprungturm in der Badeanlage Ihrer Gemeinde aus dieser Zeit und wenn Sie nicht selbst in einem Wohnhochhaus aufgewachsen sind, so kennen doch viele das ausdrucksstarke Kongresshaus in Biel, das Max Schlup zwischen 1956 und 1966 baute. Die Bauten der Nachkriegsmoderne sind uns allen bestens vertraut.
Diese Architektur zeichnet sich aus durch eine wunderbare Direktheit. Da werden die unterschiedlichsten Konstruktionsprinzipien erprobt. Skelett- und Schalenkonstruktionen, fein ausformulierte Rahmenbauten oder aber schwere Tafelvorfabrikation, auch Bauten in Stahl, monolithische Werke in Beton, Backstein oder Holz. Die Architektur dieser Zeit spricht stets eine unverblümte Sprache. Die Konstruktion ist erlebbar, sie fordert die Auseinandersetzung mit Ordnungssystemen und Geometrie. Räumliche Durchdringungen werden ausgelotet. Die Bauten haben Schnauf in den Fluren und in den Aussenräumen. Weil eben das Soziale als öffentlicher Raum gleich wichtig war wie das Private für das Individuum. Sie zeugen von der Zusammenarbeit zwischen Architekten und Bauingenieuren, die ihre Arbeit auf der Basis fundierter Kenntnisse über die technischen Möglichkeiten und die Eigenschaften der Baustoffe vollbrachten.
Diese Architektur bringt Bautypen für alle Bedürfnisse des täglichen Lebens hervor, den Laden, das Schulhaus, die Kirche, das Wohnhaus. Aber nicht nur dies. Die Architektinnen und Architekten bauten ganze Stadtteile. Sie antworteten damit auf den gesellschaftlichen Wandel, der sich in unserer Gesellschaft in dieser Zeit vollzog. In kurzer Zeit wurden zum Beispiel in Bern mehrere Tausend Wohnungen gebaut. Die Siedlungen Tscharner- und Schwabgut sind beispielhafte Stadterweiterungen, welche nationale Ausstrahlung und Bedeutung erlangten.
Es wurde viel gebaut in dieser Zeit. Heute sind die Bauten 40, 50, oder 60 Jahre alt. Eine Hinterlassenschaft unserer Eltern liegt vor uns, die dem Geist des Vorankommens nach den Entbehrungen des Krieges und dem Willen, neue technische Möglichkeiten zu erproben, entsprungen sind.
Ohne wohlwollendes Anerkennen dieser baukünstlerischen Wurzeln fällt es schwer zu verstehen, wo wir heute stehen, was uns geprägt hat und wie wir damit in die Zukunft gehen können. Heute wird vieles durch die finanzielle Brille betrachtet. Die Baukunst dieser Zeit wird missverstanden, ihr Geist wird nicht erkannt und somit fällt es uns schwer, dem Fortbestand und der Pflege dieser Bauten Anerkennung entgegen zu bringen. Wir sind getrieben von standardisiertem Denken was Energie, Komfort und Status anbelangt, schenken unreflektiert normierten Lösungsansätzen Beachtung, statt über Langfristigkeit, Wandelbarkeit und Angemessenheit der Investitionen nachzudenken. Geld ist auch eine Ressource!
Patrick Thurston, Architekt, BSA Bern
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