Die grosse Leere im Regierungsviertel
Im Jahr 1947 werden Indien und Pakistan unabhängig. Eine neue Grenze trennt den ehemaligen Punjab und damit die muslimische von der hinduistische Bevölkerung und den Shiks. Für die neuen indischen Bundesstaaten Punjab und Haryana braucht es dringend eine neue Hauptstadt, auch als Symbol des Aufbruchs und der erlangten Unabhängigkeit.
Die ersten Pläne für die Stadt 200 km nördlich von Delhi beim kleinen Dorf Chandigarh erstellen die beiden amerikanischen Städteplaner Albert Mayer und Matthew Nowicki. 1950 kommt Nowicki bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Darauf wird - auf Empfehlung von Ministerpräsident Nehru - Le Corbusier mit der Planung betraut, zusammen mit dessen Cousin Pierre Jeanneret, der in der Folge die Hauptarbeit vor Ort leistet.
Getreu seinem Credo der funktional in Wohnen, Arbeiten, Erholung, und Zirkulation aufgeteilten Stadt entwirft Corbusier den Plan, gegliedert in 46 Sektoren („Superblocks“, autonome Quartiere mit je eigener Infrastruktur) von je 1.2 km Länge und 750 m Breite. Die Sektoren sind durchnummeriert, was auch heute noch die Orientierung im Raster des siebenfach abgestuften Strassennetzes erleichtert: Alles ist durchgeplant, von den vierspurigen Schnellstrassen mit Baumalleen bis zu den Fusswegen in den vielen öffentlichen Parkanlagen. Das gleiche gilt für die Infrastruktur: Versorgung mit Strom und Wasser sowie Abwasserkanäle, alles sauber geplant und meist unterirdisch geführt.
Als „Kopf“ des Plans bildet der Sektor 1 ganz im Norden das peripher gelegene Regierungsviertel (Kapitol), mit den wichtigsten öffentlichen Gebäuden. In Abweichung zum Plan wurde der geplante Sitz des Gouverneurs (Nr. 6 im Plan) nie realisiert, der Anlage fehlt damit eine wesentliches Element. Die Achse vom Justiz- zum Parlamentsgebäude bleibt räumlich undefiniert, der menschenleere, riesige Betonplatz mit den ebenfalls leeren Wasserbecken und spärlichen Grünflächen ufert unkontrolliert aus. Wenigstens wurde 1987 zum 100. Geburtstag von Le Corbusier im Zentrum der skulpturale „Turm des Schattens“ realisiert, der - streng nach dem Massystem Modulor entworfen – einem menschlicheren Masstab entspricht.
Den Bauten auf dem Kapitol haben sowohl das Klima als auch der fehlende Unterhalt sichtbar zugesetzt. Sehr massiv in Sichtbeton gebaut, sind sie mit den typischen expressiven Elementen von Corbus Architektur versehen: Stützen- und Fensterraster, Sonnenblenden, zylinderförmige Aufbauten und durch Farben akzentuierte Eingänge. Immerhin sind beim Besuch (Februar 2017) Teile des Parlamentsgebäudes eingerüstet. Bauarbeiter sind jedoch nirgends zu sehen.
Und das Innere des zylinderförmigen Plenarsaals erscheint als überhohe düstere Höhle, die Betonflächen erinnern an die Wände eines stark befahrenen Autobahntunnels.
Geplant für 500'000, wohnen heute im ganzen Stadtgebiet über eine Million Einwohner. Chandigarh war jahrelang die prozentual am stärksten wachsende Stadt in ganz Indien. Die „City Beautiful“ hat noch heute unter Indern einen hervorragenden Ruf – und wirkt dementsprechend als Magnet auf das ganze Umland. Das konnte nicht verhindern, dass im unmittelbarer Nähe illegale slumartige Vorstädte entstanden, da die locker, maximal dreigeschossig bebauten Wohnquartiere mit ihrer niedrigen Dichte die unterprivilegierten Zuzüger nicht absorbieren konnten. Die Stadtplanung hält rigoros an den Vorgaben der Planung von Le Corbusier fest, eine Verdichtung der Wohngebiete ist – wenigstens vorläufig – kein Thema. Unterdessen ist man im Süden bei Sektor Nr. 74 angekommen.
Der ursprüngliche Gestaltungswille ist noch überall sichtbar: Neuere Bauten kopieren den Stil von Corbusier - sogar der Pavillon von Heidi Weber am Zürichhorn ist als Kopie vergrössert und in Beton gegossen als Architekturmuseum auferstanden. Zur Stadtgestaltung gehören auch die Bepflanzung mit speziell ausgewählten Bäumen und die Guss-Schachtdeckel mit eingraviertem Stadtplan. Wie überall haben die privaten Wohnbauten nicht nur positive Veränderungen erfahren. Die ursprüngliche Erscheinung wird aber weitgehend respektiert – auch wegen fehlender Ressourcen der Eigentümer.
Chandigarh ist ein Planungs- und Architektur-Import aus dem Westen und damit keine „gewachsene“ indische Stadt. Sie ist im Vergleich zu indischen Grossstädten sehr sauber und der Verkehr läuft erstaunlich flüssig. Die grosszügigen Strassen, Plätze und Parkanlagen sind wenig frequentiert. Der strenge Plan und die rigorose Ordnung widersprechen dem vom organisierten Chaos geprägten Leben in indischen Städten. Vielleicht ist das der Grund für den andauernden Erfolg der Stadt – nicht nur bei Architekturtouristen aus der ganzen Welt.
vorgestellt von Beat Gassner
Neueste Literatur zu Chandigarh:
Shaun Fynn: Chandigarh Revealed / Le Corbusiers City Today
Princeton Architectural Press 2017
ISBN 978-1-61689-581-5