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BSA Bern, Architecture elsewhere, , Patrick Thurston

Ora & Vento

Ora & Vento

Ora & Vento

Heute Abend ist alles anders! Ein starker Wind bläst von Norden her aus den Bergen in die weite Ebene. PÈLER, nennen ihn die Einheimischen. Der Wind frischt alles auf, die grosse Hitze des Tages und selbst die Wassermassen des Sees werden kräftig aufgemischt. Sogar die Fledermäuse meiden diesen bissig kalten Wind und verzichten auf ihr aufregendes Abendballett zwischen den eng stehenden Bäumen des Olivenhains.

In der Regel gehören die Abendstunden der ORA, einem lauen Wind, der aus der Ebene zu den Bergen bläst. So klingen die Tage langsam aus. Die Sonne wird von den Bergen verschluckt und der weite Himmel taucht in warme Gelb-, Rot- und Violetttöne, wenn Wolken das Licht verdichten. Diese Vorstellung formulierte Johann Wolfgang Goethe in seiner Farbenlehre vor gut 200 Jahren. An klaren Tagen hingegen steigt nach dem Sonnenuntergang das geheimnisvolle Cölinblau-Licht aus den immer schwärzer werdenden Gebirgsflanken auf, bis es gänzlich im nachtschwarzen Himmel des Firmaments stirbt. Zu dieser Stunde geben die Zikaden den Ton an. Unglaublich scharf durchdringt das rhythmische Schaben die Stille, um dann allmählich mit komplexen Ritardandi zu enden. Und die Fledermäuse lieben diese seichten Abende. Extrem behende pflücken sie Insekten aller Art aus der Luft, in einem wogenden Reigen mit akrobatischen Einlagen.

Irgendwann in der Nacht wendet sich das Blatt. Der Wind dreht. Mit rauer Frische fegt er von den Bergen zurück über den See. Das ist der VENTO. Er bringt klare Sicht, erquickende Morgenfrische und weisse Schaumkronen auf den Wellen. Das Spektakel hält an bis in die Mittagshitze, dann geht dem Vento die Luft aus. Der See wird spiegelglatt und präsentiert eine gleissend grosse Ebene, die sich im Dunst in der Ferne verliert.

Das Land hier ist karg. Fels steht überall an. Terrassierungen mittels Anböschungen und mit Mauern haben den Anbau von Oliven ermöglicht. So hat man den Eindruck in einem lockern Wald oder Garten zu sein. Das Land ist überzogen von diesem grün-silbernen Schirm, den die Baumkronen der Oliven bilden.

Doch da sind auch Häuser, auch Dörfer und der Bauwucher treibt hier seine Blüten wie andernorts auch.

Das Haus, von dem ich hier schreibe, hat meine volle Bewunderung gefunden. Eigentlich ist es gemacht, um dem Tun der Winde zu lauschen. VENTO morgens, ORA am Abend. Dazwischen ein Bad im See und nachts die Musik der Zikaden.

Waches Bewusstsein über diesen Ort und ein ausgeprägter Sinn für die Bedürfnisse der Menschen muss dieses Haus geformt haben. Anders kann es gar nicht sein. Aber wie kann man ein Haus beschreiben, das dem Lauschen (und den Launen) der Winde dienen soll? Es liegt einfach da, unauffällig, zwischen den Bäumen. Ein eingeschossiges Haus mit muralem Charakter, eingedeckt mit Coppi-Ziegeln. Die Wiese ist verbrannt, von der Sonne und den Winden ausgezehrt. Doch unter den Olivenbäumen ist ein grüner Schimmer zu erkennen, wie wenn die Schatten der Baukronen zum „Lagern“ im frischen Gras einladen würden. Genau so erlebe ich dieses Haus. Es lädt einem ein, sein Lager hier unter dem gefalteten Betondach aufzuschlagen. Dach, Boden und Wände bilden eine Skulptur, in dem die Stützen einen Raum archaischer Prägung und Dimension umfassen. Die Mittel sind einfach. Sie werden durch die Blechschalungen an den Stützen ins Künstlerische überhöht und finden in der Ausbildung der Wasserspeier eine schlüssige Sprache.

Das Dach hält alles zusammen. Es eint den Schlaf-, Wohn- und Kochtrakt und schliesst auch den Fahrzeugunterstand ein. Die Flucht der Stützen und Wände, welche den Dachperimeter auf den Boden übertragen, umreissen die mit grossformatigen Marmorplatten versehene Plattform des Hauses. Darüber hinaus gibt es nichts Gebautes, die Wiese und der Olivenhain grenzen direkt an. So liegt es einfach da. Doch dann, genau an der Stelle wo eine bereits vorher bestehende Terrassierungsmauer durch das Haus verläuft, bricht das eingeschossige Volumen nach unten auf. Hier liegen innen und aussen die Treppen. Sie erweitern die räumliche Disposition und verbinden den Raum nach unten zur Küche und hinaus auf dem Weg zum See. Die Innen- und Aussenräume verweben sich. Ein Olivenbaum steht an dieser Stelle unter dem Dach, Haus und Landschaft fliessen ineinander. Einfach meisterhaft, wie ein scheinbar elementarer Rohling hier eine komplexe Verwandlung erfährt, ohne als Ganzes seine Kraft und Einheit zu verlieren.

Diese Architektur kommt einem ganz selbstverständlich entgegen, sie lädt ein zum Verweilen und gibt Raum, sie sucht nicht die Sensation der Aussicht oder das Spektakel grosser Terrassen, hier wo eine grossartige Landschaft inmitten der Berge in Szene gesetzt werden könnte. Sie geht davon aus, dass zum „Lagern“ und zum „Lauschen der Winde“ ein Ort genügt, an dem man zu sich selbst kommt.

Noch etwas scheint mir wichtig. Diese Architektur ist in einer Zeit entstanden, wo das Bauen noch einfach war. Allerdings war hier ein Meister am Werk. Einer der das Handwerk des eigenständigen Konstruierens als Königsdisziplin verstand. Kein Detail entgeht seinem gestaltenden Willen und sorgfältiger Planung.

Libero Cecchini, der Architekt dieses Hauses, ist im vergangenen Frühjahr im Alter von 101 Jahren verstorben. Es freut mich, sein Wirken auf diese Weise zu würdigen.

vorgestellt von Patrick Thurston