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werk, bauen + wohnen 9–2023

werk, bauen + wohnen 9–2023

Strom der Zeit

Alles reisst er mit. Er macht keinen Halt, weder vor Menschen noch vor Dingen. Wir sind dem Strom der Zeit unterworfen und dadurch auch dem Prozess des Alterns. Vergänglichkeit, auf den Menschen bezogen, bedeutet Tod. Dieser Unverschämtheit des Lebens entgeht niemand. Wenn ein Objekt altert, so lehrt es uns die kapitalistische Logik des Kon-sums, entsorgen wir es und ersetzen es durch Neues. Ausser ein Gegenstand ist rar geworden, dann können ihn sein Alter begehrenswert und die Spuren der Zeit sogar wertvoll machen – wir haben es mit Patina zu tun. Patina ist bei Gebäuden eine zweischneidige Sache und kann positiv oder negativ interpretiert werden: wohlwollend, als sichtbar guter Lauf der Dinge, oder als nagender Zahn der Zeit.
Neben der Zeit als Gestalterin übt eine Reihe anderer Faktoren Einfluss auf die Oberfläche von Gebäuden aus: Der Gebrauch durch die Nutzenden genauso wie das Wetter und menschengemachte Umwelteinflüsse, etwa die Luftverschmutzung. Wir leben in einer Zeit, in der man dem Fassadenanstrich vorab etwas mehr Staubgrau beimischt, um den Alterungsprozess vorwegzunehmen; «ästhetische Stabilität» nannte es einst ein befreundeter Architekt, von Grünspan aus der Spritzpistole oder vorverwittertem Holz ganz zu schweigen – der Wahn zur Kontrolle der Zeit scheint uns allzu menschlich.
Wenn Architektur dauerhaft und dadurch nachhaltig sein soll, muss sie gut altern können, möglichst im Alter sogar schöner werden. Doch wie altern Industriematerialien wie Kunststo#e oder Glas? Wie altern die Bauten des Minimalismus und diejenigen des Holzbooms der 1990er Jahre? Manchmal sagen Bilder mehr als Worte, weshalb wir Philip Heckhausen und Roland Bernath exklusiv für dieses Heft auf die Reise zu Ikonen der 1990er Jahre geschickt haben.
Ihre Fotografien gehen der Frage nach, wie sich die Architektur der Realität stellt, wenn die Champagnerkelche des Erö#nungsreigens längst im Schrank verstaut sind und die Erinnerungen an die Planungs- und Bauzeit nach und nach verblassen. — Lucia Gratz, Jenny Keller, Roland Züger