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werk, bauen + wohnen 3–2024

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Die Steine von Venedig

In der heutigen Welt, die trotz ökologischer Krise ungehemmt auf Wachstum und Fortschritt setzt, über Erhalt nachzudenken, scheint ebenso anachronistisch wie naheliegend. Ähnlich muss es John Ruskin ergangen sein, der angesichts der fortschrei­tenden Industrialisierung im 19. Jahrhundert zum entschiedenen Verfechter bestehender Werte wurde. Als Ästhet und scharfer Beobachter seiner Zeit erkannte er in der technischen Erschliessung der Landschaft und dem Verfall historischer Städte den Verlust des baukulturellen Fundaments. «Wie ein Stück Zucker im Tee, so schnell schmilzt Venedig dahin», stellte er fest und begann in akribi­schen Zeichnungen obsessiv festzuhalten, was er dem Untergang geweiht sah. In The Stones of Venice schrieb er 1853 seine theoretischen Überlegungen nieder. Sie sollten zur Grundlage der modernen Denkmalpflege werden.

Die Aktualität Ruskins lässt sich heute vor allem in dem Teil seines Denkens finden, der über die Grenzen der einzelnen Disziplinen, die er vertrat, hinausreichte – Erhalt war für ihn ein gesellschaft­liches Projekt. Und auch heute gelingt Erhalt am besten dort, wo kulturelle, ökologische und ökonomische Belange zusammen gedacht und nicht gegeneinander ausgespielt werden. Kooperationen mit der Denkmalpflege stehen deshalb im Zentrum dieser Ausgabe. Sie zeigen, dass die Zusammenarbeit aller Beteiligten und die Aushandlung von Inte­ressen zentral sind, um den historischen Gebäude­ bestand nachhaltig in die Zukunft zu führen.

Als Projekt im städtebaulichen Massstab reprä­sentiert diesen Grundsatz das Werkstadt­Areal der SBB im Zürcher Westen; nicht der Bestand sollte hier der Nutzung angepasst werden, sondern um­gekehrt. Im Kleinen steht dafür eine romantisch wir­kende Burgruine in der Bündner Herrschaft, deren Konservierung von einer lokalen Initiative getragen wird. Unsere «Steine von Venedig» fanden wir für dieses Heft ausserdem in St. Gallen, wo Claude Paillards Theater in seiner kräftigen Betonsprache instandgesetzt und erweitert wurde, genauso wie bei einem Baustellenbesuch in Basel. Dort hauchte ein versiertes Team aus Fachleuten einem Gemein­ dehaus – wohl ganz im Sinne Ruskins – mit grosser handwerklicher Sorgfalt ein zweites Leben ein. — Lucia Gratz, Christoph Ramisch